Die ökonomischen Folgen der Corona-Krise werden die Erwachsenenbildungslandschaft stark treffen. Ob sie zur Wüste wird liegt auch in den Händen der Akteure der Erwachsenenbildung, die die Bedeutung von Advocacy unterschätzen.
Dieser Beitrag wurde zuerst auf EPALE veröffentlicht: https://epale.ec.europa.eu/de/blog/advocacy-der-erwachsenenbildung-stimme-und-gesicht-geben
Wir müssen keinen Kaffeesatz lesen um zu erahnen, wie schwer es künftig für die Erwachsenenbildung wird, denn erste Folgen der Corona-Krise zeigen sich bereits. Einige Bildungsträger sind schon insolvent, da sie die durch die Schließungen entstandenen Einbußen nicht verkraften konnten. Weitere Träger werden wohl folgen oder zumindest Angebote reduzieren müssen, denn:
- Eine höhere Arbeitslosigkeit führt zu weniger Geld in den Haushalten und kann einen Rückgang der Anmeldungen und somit der Einnahmen bedeuten.
- Kommunale Förderungen werden deutlich geringer ausfallen, da die Einnahmen der Kommunen aus Steuern etc. sinken und gleichzeitig die Ausgaben, z.B. für Sozialhilfe, steigen. Dadurch verteuern sich viele Angebote, was sich ebenfalls negativ auf die Anmeldezahlen auswirken kann. Absehbar ist, dass sich die wenigsten Kommunen in den nächsten zwölf Monaten von der Krise erholen. Gleiches kann auch für Landesförderungen angenommen werden.
- Fördermittel richten sich oft nach den geleisteten Stunden im laufenden Jahr und in 2020 fallen wegen der Schließungen deutlich weniger Stunden an.
- So lange die Abstandsregeln eingehalten werden müssen, werden viele Präsenzveranstaltungen nicht mehr mit der berechneten Teilnehmer*innen-Zahl stattfinden können, was ebenfalls zu finanziellen Verlusten führt.
- Neue Fördertöpfe, ob aus Bundes-, Landes oder EU-Mitteln, sind nur für die berufliche Bildung wahrscheinlich, da alle Institutionen sehr viel Geld zur Bekämpfung der unmittelbaren Folgen der Krise ausgeben. Geld, das zur weiteren Förderung der Erwachsenenbildung insgesamt fehlen wird.
Kurzum: Wir können uns auf weniger Bildungsangebote und weniger Träger einstellen; es sieht recht finster aus. Müssen wir das hinnehmen oder finden wir Wege, eine Verödung der Bildungslandschaft zu verhindern?
Die Erwachsenenbildung ist vielfältig und wertvoll – aber leider kaum sichtbar
Die Erwachsenenbildung in Deutschland zeichnet sich durch eine enorme Vielfalt aus. Neben dem Unterschied zwischen formalen und non-formalen Bildungsangeboten haben wir ein weites Spektrum an Bildungsbereichen: berufliche, kulturelle und politische Bildung, Grundbildung, Gesundheits- und Familienbildung seien hier nur exemplarisch genannt.
Auch die Bandbreite der Bildungsträger ist groß: Stiftungen, Vereine, Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften, Kirchen, kommunale Träger (wie Volkshochschulen, aber auch Musikschulen), Kammern, Hochschulen und privatwirtschaftliche Unternehmen.
All diese Bereiche und Organisationen konkurrieren, doch in der Gesamtschau komplettieren sie eine Angebotspalette, die vielen Zielgruppen, unterschiedlichsten persönlichen Zielen und Bedürfnissen entgegenkommt. Für die Gesellschaft bedeutet eine ausdifferenzierte Erwachsenenbildung teilhabende und mitgestaltende Bürger*innen. Ebenso ist ein weit gefächertes Angebot an Weiterbildungen unabdingbar für die Zukunftsfähigkeit eines Landes, denn nur dadurch können wir den stetigen Wandel der (Arbeits-)Welt gestalten.
Das alles wissen wir und eigentlich ist die (verkürzte) Beschreibung hier überflüssig. Doch das Wissen um die Bedeutung der Erwachsenenbildung scheint eher eine Geheimsache zu sein. Wann habe ich – wann haben Sie – das letze Mal einen Beitrag gesehen oder gelesen, der sich an die breite Öffentlichkeit wandte und ein Schlaglicht auf die Erwachsenenbildung als solche warf? Ein Video, ein Blogbeitrag, ein Social Media Post, ein Zeitungsartikel oder ein TV-Beitrag?
Uns begegnen in den traditionellen und in den sozialen Medien mal einzelne Bildungsträger, mal separierte Themen der Weiterbildung und manchmal abstrakte Begriffe wie ‚Lebenslanges Lernen‘. Uns begegnen Social Media Beiträge, die sich an ein interessiertes (Fach-) Publikum wenden. Uns begegnen Forderungen nach finanzieller Unterstützung, in denen das Warum natürlich erklärt wird. Aber ganz ehrlich: Wer fordert zurzeit denn keine finanzielle Unterstützung? Und wer hat keinen guten Grund dafür? Eine gezielte Fürsprache, also Advocacy, für die Bedeutung der Erwachsenenbildung ist in der Breite nicht sichtbar. Und wer kaum sichtbar ist, hat es schwer berechtigte Forderungen durchzusetzen.
Vielfalt als Hindernis für Advocacy?
Kurz zum Verständnis und zur Verwendung der Begriffe:
Advocacy bezeichnet einen Prozess, bei dem Organisationen Anwaltschaft bzw. Fürsprache für ein Anliegen übernehmen. Advocacy wirkt auf die Öffentlichkeit ein, sie aktiviert sie und interagiert mit ihr. Dies geschieht meist mittels Kampagnen, deren Kern klare Botschaften und Narrative sind, die den Wert und die Bedeutung des Anliegens verdeutlichen. Dadurch findet, zumindest indirekt, eine Einflussnahme auf Entscheidungen und Entscheidungsträger statt.
Lobbyarbeit kann als Teil von Advocacy verstanden werden, der auf die direkte Beeinflussung von Entscheidungsträgern und konkreten Entscheidungen zielt. Dies geschieht beispielsweise durch persönliche Kontakte, die Organisationen durch ihre Historie, ihren institutionellen Hintergrund oder auch durch langfristige Strategien aufgebaut haben. Lobbyarbeit richtet sich auch an Medien, in denen Organisationen versuchen ihre Anliegen zu platzieren; die Öffentlichkeit wird so mittelbar angesprochen. Konstant betriebene Advocacy erleichtert den Zugang zu Entscheidungsträgern, da für sie die öffentliche Meinung bedeutsam ist.
Advocacy und Lobbyarbeit bislang
Ein Beispiel für Advocacy in Deutschland ist der Deutsche Weiterbildungstag. Das bemerkenswerte an diesem Aktionstag ist der Zusammenschluss mehrerer Bildungsverbände sowie kommerzieller und gemeinnütziger Bildungsträger. Sowohl die Mitgliedsorganisationen der Verbände als auch die partizipierenden Unternehmen des Weiterbildungstags konkurrieren: um Teilnehmer*innen, Fördergelder etc. Dennoch agieren sie gemeinsam und fördern die Erwachsenenbildung. Leider findet der Weiterbildungstag nur alle zwei Jahre statt*. Ein konstantes Einwirken auf die Öffentlichkeit kann so nicht erreicht werden. Problematisch in Hinblick auf wirkungsvolle Advocacy sind auch Aspekte wie das wechselnde Motto, welches nur Teilbereiche der Erwachsenenbildung berührt und der verhaltene Einsatz von Social Media sowohl als interaktives Kommunikationswerkzeug wie auch zur Bündelung der Aktionen. Zur Veranschaulichung möge man sich das Festival of Learning unter der Federführung des National Learning & Work Institute (England and Wales) anschauen.
Dass Lobbyarbeit für die Erwachsenenbildung betrieben wird, es jedoch an einer gemeinsamen Advocacy-Strategie in Deutschland fehlt, zeigt sich m.E. an diesem Beispiel: Im Juni 2019 plante das Finanzministerium nur noch die berufliche Bildung (und diese in engen Grenzen) von der Umsatzsteuer zu befreien. Das hätte zu einer Erhöhung der Teilnahmegebühren in allen anderen Bereichen geführt. Ein schneller Zusammenschluss von sechs Verbänden wirkte auf Entscheidungsträger und Medien ein (siehe zum Überblick mit verweisenden Links: https://wb-web.de/aktuelles/steuerfreiheit-fur-weiterbildung-gefordert.html ). Die Öffentlichkeit konnte in der Breite jedoch nicht aktiviert werden. Das zeigt sich beispielsweise daran, dass eine Petition, die unabhängig von den Verbänden – also privat – gestartet wurde, nur ca. 13.500 Unterschriften erlangte. Das erscheint wenig verglichen mit den 15 Mio. Menschen, die die Verbände nach eigenen Angaben erreichen (siehe deren Presseerklärung). Zum Glück verzichtete der Bundestag letztendlich auf die gesetzliche Neuregelung, was an der, mehr hinter den Kulissen wirkenden, Lobbyarbeit lag.
Daneben gibt es auf regionaler und nationaler Ebene viele weitere Beispiele für Advocacy und Lobbyarbeit. Jedoch beziehen sie sich meist auf bestimmte Bildungsbereiche wie berufliche Bildung oder Grundbildung. Gemeinsame Botschaften, Narrative und Kampagnen für die Erwachsenenbildung als Ganzes sind kaum zu erkennen. Die Vielfalt der Erwachsenenbildung scheint also bislang wirkungsvolle Advocacy zu behindern.
Advocacy in Zeiten der Corona-Krise?
Natürlich schläft die Erwachsenenbildung nicht. Schutzschirme wurden von verschiedenen Verbänden gefordert. Exemplarisch seien hier die Forderungen des Verbandes Katholische Erwachsenenbildung Deutschlands und des Deutschen Volkshochschulverbandes genannt. Auch für einzelne Bereiche, wie die politische und die berufliche Bildung, werden Hilfen angemahnt (z.B. der Appell der Bundesausschusses politische Bildung und die Forderungen des Bundesverbandes für Träger der beruflichen Bildung). Das ist wichtige, etablierte Lobbyarbeit, die hoffentlich zu kurzfristigen Lösungen für finanziell bedrohte Bildungseinrichtungen führen wird.
Bedeutung und Wirkung von Advocacy
Reine Lobbyarbeit der Verbände wird nicht ausreichen um den Status Quo der Erwachsenenbildungslandschaft zu erhalten. Die Auswirkungen der Corona-Krise werden langfristiger sein und wir werden noch länger um Unterstützung konkurrieren – nicht nur untereinander sondern mit einflussreichen Branchen. Aber warum sind andere Branchen einflussreicher? Was macht andere Branchen einflussreich?
- Sie haben messbare Erfolge, wie Umsatzzahlen. Der Erfolg von Erwachsenenbildung ist kaum messbar, wir können höchsten benennen, wie viele Teilnehmer*innen wir haben; aber was ihnen unsere Angebote bringen ist für die Gesamtheit der Erwachsenenbildung nicht messbar.
- Sie betreiben Lobbyarbeit, die durch eine Adcocacy-Strategie unterstützt wird. Das zurzeit prominenteste Beispiel ist sicher die Automobilindustrie. Sie argumentiert, dass sie der Motor der deutschen Wirtschaft sei (das ist ein eingeführtes Narrativ) und dass Hilfen für sie die ganze Wirtschaft wieder in Gang bringen. Der Automobilindustrie helfen bedeutet allen zu helfen – das wird momentan kommuniziert und breit diskutiert.
Erwachsenenbildung lässt sich nicht mit Industrien vergleichen. Wir können und sollten nicht so wie die Automobilindustrie argumentieren – zumal wir das Problem der Messbarkeit haben – aber wir können von allen lernen, die schon lange Advocacy betreiben. Erfolgreiche Advocacy bedeutet gemeinsame Kernbotschaften zu formulieren, die die Bedeutung eines Anliegens für die Gesellschaft beschreiben, so dass es öffentlich wahrgenommen und diskutiert wird.
Wir konkurrieren um Aufmerksamkeit – nicht um Geld
Öffentliche Aufmerksamkeit ist das Hauptziel von Advocacy, doch Aufmerksamkeit ist in unserer medial geprägten Welt ein rares Gut. Man erlangt Aufmerksamkeit nicht durch einseitiges Verbreiten von Erklärungen oder Forderungen. Man erreicht Aufmerksamkeit durch vielfältige Interaktionen, die von Multiplikatoren weitergetragen und kommuniziert werden. Kann ein so verzweigter Bereich wie die Erwachsenenbildung das überhaupt leisten?
Vielfalt als Chance: Wir sitzen auf Gold
Wenn wir Verbände nicht als institutionelle Hierarchiebauten und Bildungsträger nicht als Organisationseinheiten sehen, dann ist die Anzahl der Menschen in der Erwachsenenbildung schon mal recht ordentlich. Wenn wir dann noch Lernende nicht als Kund*innen und freiberuflich tätige Lehrende nicht als Auftragnehmer*innen betrachten sondern als Menschen, die alle um die Bedeutung und den Wert der Erwachsenenbildung wissen, dann kommen wir auf eine enorme Zahl. All diese Menschen können Kernbotschaften für die Erwachsenenbildung weitertragen und eigene Geschichten erzählen, die ihren Wert beschreiben. All diese Menschen können der Erwachsenenbildung Stimme und Gesicht geben. Diese Menschen sind ein Goldschatz, den in dieser Vielfalt und Breite die wenigsten Branchen haben.
Ich glaube die große Herausforderung besteht darin, mit einer Stimme zu sprechen. Die dauerhafte Unterfinanzierung einiger Bildungsbereiche und die Fokussierung von Bildung auf Schule, Ausbildung und Studium haben zu Einzelkämpfen um schmale Stücke eines kleinen Kuchens geführt. Die ökonomischen Folgen der Corona-Krise werden den Kuchen weiter verkleinern.
Will man dem mit einer gemeinsamen Advocacy-Strategie entgegentreten, kann es nicht darum gehen, welche Organisation die Älteste, die Größte, die Einzige im Bereich XY, die Wichtigste für XY ist. Eingeführte Alleinstellungsmerkmale müssen hinter dem Anliegen zurücktreten um gemeinsame Kernbotschaften zu finden. Und diese Botschaften sollten nicht beschreiben, was Bildungsträger machen; sie sollten darstellen, was Erwachsenenbildung bewirkt und wie sie wirkt: Sie kann persönlich Entwicklung bewirken, sie kann Perspektiven öffnen, in Krisen helfen … Dieses Wirken ist, denke ich, die große Gemeinsamkeit.
Es scheint mir ein guter Zeitpunkt zu sein, um unsere Kräfte zu bündeln und der Erwachsenenbildung eine laute Stimme und ein freundliches Gesicht zu geben.
* Ob es in diesem Jahr virtuelle Einzelveranstaltungen gibt oder ob es „nur“ eine Verlegung in das Jahr 2021 gibt, steht momentan noch nicht fest.
Wir konkurrieren um Aufmerksamkeit – nicht um Geld
Öffentliche Aufmerksamkeit ist das Hauptziel von Advocacy, doch Aufmerksamkeit ist in unserer medial geprägten Welt ein rares Gut. Man erlangt Aufmerksamkeit nicht durch einseitiges Verbreiten von Erklärungen oder Forderungen. Man erreicht Aufmerksamkeit durch vielfältige Interaktionen, die von Multiplikatoren weitergetragen und kommuniziert werden. Kann ein so verzweigter Bereich wie die Erwachsenenbildung das überhaupt leisten?
Vielfalt als Chance: Wir sitzen auf Gold
Wenn wir Verbände nicht als institutionelle Hierarchiebauten und Bildungsträger nicht als Organisationseinheiten sehen, dann ist die Anzahl der Menschen in der Erwachsenenbildung schon mal recht ordentlich. Wenn wir dann noch Lernende nicht als Kund*innen und freiberuflich tätige Lehrende nicht als Auftragnehmer*innen betrachten sondern als Menschen, die alle um die Bedeutung und den Wert der Erwachsenenbildung wissen, dann kommen wir auf eine enorme Zahl. All diese Menschen können Kernbotschaften für die Erwachsenenbildung weitertragen und eigene Geschichten erzählen, die ihren Wert beschreiben. All diese Menschen können der Erwachsenenbildung Stimme und Gesicht geben. Diese Menschen sind ein Goldschatz, den in dieser Vielfalt und Breite die wenigsten Branchen haben.
Ich glaube die große Herausforderung besteht darin, mit einer Stimme zu sprechen. Die dauerhafte Unterfinanzierung einiger Bildungsbereiche und die Fokussierung von Bildung auf Schule, Ausbildung und Studium haben zu Einzelkämpfen um schmale Stücke eines kleinen Kuchens geführt. Die ökonomischen Folgen der Corona-Krise werden den Kuchen weiter verkleinern.
Will man dem mit einer gemeinsamen Advocacy-Strategie entgegentreten, kann es nicht darum gehen, welche Organisation die Älteste, die Größte, die Einzige im Bereich XY, die Wichtigste für XY ist. Eingeführte Alleinstellungsmerkmale müssen hinter dem Anliegen zurücktreten um gemeinsame Kernbotschaften zu finden. Und diese Botschaften sollten nicht beschreiben, was Bildungsträger machen; sie sollten darstellen, was Erwachsenenbildung bewirkt und wie sie wirkt: Sie kann persönlich Entwicklung bewirken, sie kann Perspektiven öffnen, in Krisen helfen … Dieses Wirken ist, denke ich, die große Gemeinsamkeit.
Es scheint mir ein guter Zeitpunkt zu sein, um unsere Kräfte zu bündeln und der Erwachsenenbildung eine laute Stimme und ein freundliches Gesicht zu geben.
* Ob es in diesem Jahr virtuelle Einzelveranstaltungen gibt oder ob es „nur“ eine Verlegung in das Jahr 2021 gibt, steht momentan noch nicht fest.